Die nachfolgende Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit. Namen, Alter und Ort wurden geändert:
Es war ein wolkenloser Samstagmorgen, als Maria (44 Jahre) in Begleitung ihrer Tochter Lena (16 Jahre) und ihres Mannes Gerhard (46 Jahre) zu einer gemeinsamen Bergtour aufbrach. Der Aufstieg zur Alpenrose sollte mit einem Kaiserschmarrn und einem atemberaubenden Panorama belohnt werden. Doch auf halbem Weg verspürte Maria plötzlich einen vernichtenden Druck auf der Brust. Gerhard, der schon ein Stück weit vorausgegangen war, rannte, alarmiert durch die Hilfeschreie seiner Tochter, den Wanderweg hinab. Bei seiner Frau angekommen, verständigte er sofort die Rettung. Die Zeit bis zum Eintreffen des Rettungshelikopters erschien wie eine Ewigkeit. Mit diesem wurde Maria zum nächstgelegenen Herzkatheter gebracht. In der Koronarangiographie zeigte sich eine hochgradige Stenose der distalen LAD, welche erfolgreich mittels Stents eröffnet werden konnte. Maria hatte Glück. Als ihr Vater mit 42 Jahren einen Herzinfarkt erlitten hatte, war jede Hilfe zu spät gekommen. Sie war damals dreizehn Jahre alt gewesen. Die anschließende medizinische Abklärung ergab die Diagnose Familiäre Hypercholesterinämie. Die rechtzeitige Diagnose und der frühe Start einer hocheffektiven lipidsenkenden Therapie hätten die dramatischen Geschehnisse verhindern können.
Familiäre Hypercholesterinämie (FH) ist eine genetisch bedingte Störung im Cholesterinstoffwechsel, welche zu erhöhtem Low-Density-Lipoprotein-Cholesterin (LDL-C) führt und von Geburt an wirkt. Da das LDL-C sowohl ursächlich als auch kumulativ der Atherosklerose zugrunde liegt1, haben Betroffene ein stark erhöhtes kardiovaskuläres Risiko.2 Leider wird die FH oft nicht oder zu spät erkannt. Dabei ist sie weder so selten, noch harmlos. Nach neueren Schätzungen betrifft FH eine von 311 Personen3. Damit ist sie die häufigste genetische Erkrankung in der allgemeinärztlichen Praxis und häufiger als alle 26 im österreichischen Neugeborenenscreening enthaltenen Erkrankungen zusammen.4
Aus diesem Grund hat die österreichische Atherosklerosegesellschaft (AAS) vor sechs Jahren das FH-Register ins Leben gerufen. Ziel ist der flächendeckende Aufbau eines Patientenregisters. Mittels Kaskadenscreenings können, ausgehend von einem betroffenen Indexpatienten, Verwandte untersucht und nach erfolgter Diagnose einer frühzeitigen, präventiven Behandlung zugeführt werden.
An eine FH sollte immer gedacht werden bei:
- LDL-C ≥ 190 mg/dl (Erwachsene); ≥ 160 mg/dl (Kinder)
- vorzeitiger koronarer Herzkrankheit
- positiver Familienanamnese
- Xanthomen
Sekundäre Ursachen einer LDL-C-Erhöhung wie Hypothyreose, Cholestase, Nephrotisches Syndrom, schwere Adipositas, Anorexie und Medikamente (z. B. Retinoide) sollten ausgeschlossen werden.
FH-Scores
Für die Diagnose der FH stehen diverse Scores zur Verfügung. Am häufigsten angewandt werden:
- Dutch-Lipid-Clinic-Network(DLCN)-Score
- Simon-Broome-Score
- Simon-Broome-Score – adaptiert für Kinder
Für die Diagnose der FH bei Kindern und Jugendlichen ist der DLCN nicht validiert.5 In dieser Population sollten die Simon-Broome-Kriterien verwendet werden.6 Die Scores können im Internet und über mobile Apps aufgerufen werden.
LDL-C auf unbehandelte Werte rückrechnen
Häufig wird die Diagnose durch eine bereits etablierte lipidsenkende Therapie erschwert. Sollte kein LDL-C vor Beginn der Therapie bekannt sein, kann mithilfe der Tabelle7 das LDL-C vor Therapiestart ermittelt werden.
Dosis | Prava | Fluva | Simva | Atorva | Rosuva | Ezetimib (EZE) | EZE + Atorva | EZE + Rosuva |
10 mg | 1,3 | 1,4 | 1,5 | 1,8 | 1,2 | 1,7 | 2,1 | |
20 mg | 1,4 | 1,2 | 1,4 | 1,7 | 2,0 | 2,0 | 2,4 | |
30 mg | 1,4 | 1,3 | 1,6 | 1,9 | 2,3 | 2,3 | 3,0 | |
40 mg | 1,4 | 1,8 | 2,0 | 2,4 |
Umrechnungsfaktoren auf LDL-Cholesterin vor Start der Lipidsenkenden Medikation. © Prof. Thomas Stulnig 2016
Genetische Diagnose
Macht der Score eine FH-Diagnose wahrscheinlich, sollte eine Gensequenzierung erfolgen. Dazu können die Betroffenen an ein Referenzzentrum überwiesen werden. Hier finden Sie Referenzzentren in Ihrer Nähe.
Bei begründetem Verdacht wird die genetische Diagnostik von der Krankenkasse übernommen. Aktuell werden an den Referenzzentren alle relevanten Gene getestet. Zusätzlich haben Betroffene die Möglichkeit, sich in das österreichische Register für Familiäre Hypercholesterinämie aufnehmen zu lassen.
Einem hohen LDL-C können sowohl monogenetische als auch komplexe polygenetische Ursachen zugrunde liegen. Die Abklärung von 314 Patienten mit einem LDL-C von ≥ 195 mg/dl an einem internationalen Referenzzentrum ergab bei 54 % eine monogenetische Ursache und bei weiteren 13 % eine polygenetische Ursache. Bei etwa einem Drittel der Patienten konnte mit den angewandten Untersuchungsmethoden keine genetische Ursache identifiziert werden.8
Bei den monogenetischen Ursachen wird zwischen den autosomal co-dominanten bzw. dominanten und den autosomal rezessiven unterschieden. Die Tabelle gibt dazu einen Überblick.9
Gen | Vererbung | Häufigkeit* |
Co-dominant | ||
LDLR | Autosomal co-dominant | 80-85 % |
APOB | Autosomal co-dominant | 5-10 % |
PCSK9 | Autosomal co-dominant | 1 % |
Rezessiv | ||
LDLRAP1 | Autosomal rezessiv | < 1 % |
LIPA | Autosomal rezessiv | << 1 % |
ABCG5/8 | Autosomal rezessiv | < 1 % |
Dominant | ||
APOE | Autosomal dominant | << 1 % |
STAP1 | Autosomal dominant | << 1 % |
* bezogen auf monogenetische Ursachen.
Die von Geburt an erhöhten LDL-Partikeln bedingen das schnelle Voranschreiten der Atherosklerose. Daher empfehlen Guidelines, ab zirka zehn Jahren mit der pharmakologischen Therapie zu beginnen. Hierfür stehen heute viele potente Optionen zur Verfügung. Aus Platzgründen wollen wir nur auf die Neuzugänge eingehen. Seit Dezember 2020 gibt es nun mit Inclisiran neben den bereits etablierten monoklonalen Antikörpern eine halbjährlich subkutan zu verabreichende siRNA-Therapie gegen PCSK9.
Bempedoinsäure ist in der EU seit April 2020 auf dem Markt. Dabei handelt es sich um einen leberspezifischen ATP-Citrat-Lyase-Hemmer. Dieses Enzym ist der HMG-CoA-Reduktase vorgelagert und bewirkt eine Senkung der hepatischen Cholesterinsynthese, was – wie auch bei den Statinen – zu einer verstärkten Expression der LDL-Rezeptoren führt.
- Die FH gehört zu den häufigsten genetischen Erkrankungen in der allgemeinärztlichen Praxis.
- Die Diagnose lässt sich anhand des LDL-C, der Familienanamnese und spezifischer Krankheitszeichen eingrenzen und mittels genetischer Untersuchung bestätigen. Diese erfolgt an Referenzzentren, von wo aus Personen in das österreichische FH-Register aufgenommen werden können.
- Das FH-Register bietet die Infrastruktur, um mittels Kaskadenscreenings betroffene Verwandte zu identifizieren und genetisch zu charakterisieren. Dadurch lässt sich langfristig der Behandlungsstatus von Betroffenen verbessern, des Weiteren kann ihr Risiko, Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu erleiden, verringert werden.