Hausärzt:in 04/2025
Ärzt:in Assistenz 03/2024

Die Gefäßmedizin einst und jetzt

verzweigte bunte Gefäße
Wie aus einer rein operativen Disziplin eine integrative wurde.
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Dr. Reinhard B. Raggam im Interview über die Entwicklung der Angiologie in den letzten 35 Jahren.
Medizinische Expertise
Reinhard Raggam

Priv.-Doz. Priv.-Doz. OA Dr. Reinhard Raggam (Klin. Abteilung f. Angiologie, Universitätsklinik für Innere Medizin, Med Uni Graz, Präsident der Österr. Gesellschaft für Internistische Angiologie (ÖGIA))

HAUSÄRZT:IN: Die Angiologie anno 1990 und heute: Wie war es damals, und was hat sich seither verändert?

Prim. RAGGAM: In den frühen 1990er Jahren standen nur begrenzte Optionen für die Behandlung von Gefäßerkrankungen‚ zur Verfügung, die sich im Wesentlichen auf Symptomlinderung und chirurgische  Eingriffe beschränkte. Atherosklerose galt schlicht als unvermeidliche Begleiterscheinung des Alterns und wurde nur bedingt als "Erkrankung" wahrgenommen, Amputationen waren eine relativ häufige Maßnahme bei Vorliegen einer pAVK, endovaskuläre Therapieoptionen noch nicht etabliert.

Bei Thrombose und Lungenembolien setzte man auf Bettruhe, Kompressionstherapie und das Hochlagern der betroffenen Extremität, medikamentös kam unfraktioniertes – und später dann niedermolekulares – Heparin im akuten Setting zum Einsatz, danach wurde eine Vitamin-K-Antagonisten-Therapie (Marcoumar oder Sintrom) zumindest für drei bis sechs Monate durchgeführt.

Heute sind eine hochauflösende Bildgebung, endovaskuläre Eingriffe und spezifische medikamentöse Therapien ein fixer Bestandteil der Diagnostik und Therapie von Gefäßerkrankungen – sowohl im arteriellen als auch im venösen System.

Können Sie uns Beispiele für Meilensteine rund um die Behandlung von Gefäßerkrankungen nennen?

Akute proximale Thrombosen im iliofemoralen Abschnitt und zentrale, schwere Lungenembolien werden heute immer öfter auch interventionell behandelt. Die kathetergestützte Thrombolyse, die mechanische Aspirationsthrombektomie oder die Kombination beider Verfahren sowie das Beckenvenenstenting sind. Beispiele für endovaskuläre Techniken, die über die letzten Jahre entwickelt wurden und erfolgreich in der klinischen Zentrumsmedizin angewendet werden.

Für die medikamentöse Behandlung von Thrombosen und Lungenembolien stehen mit den direkten oralen Antikoagulantien (DOAKs) seit den 2010er Jahren hochwirksame Alternativen zu Vitamin-K-Antagonisten zur Verfügung, sie sind seit gut zehn Jahren als Erstlinientherapie etabliert. DOAKs weisen wichtige Vorteile für Patient:innen und Behandelnde auf: Die Dosierung von DOAKs ist fix und richtet sich nicht nach Gerinnungslaborwerten, die auch nicht mehr bestimmt werden müssen.

Das periprozedurale Management unter DOAKs kommt ohne Bridging mit Heparin aus und wird so auch deutlich vereinfacht, es wird nur pausiert. Die sorgfältige Nutzen-Risiko- Evaluierung einer unbefristeten Antikoagulationstherapie durch Fachärzt:innen für Angiologie berücksichtigt einerseits patient:innenbezogene Risikofaktoren und Risikosituationen, die das VTE-Ereignis ausgelöst haben, andererseits das mögliche Blutungsrisiko durch die Blutverdünnungstherapie. Etablierte Scores wie z. B. der VTE-Predict Score tragen hier dazu bei, eine individuelle, maßgeschneiderte Therapie zu finden, Niedrigdosis-Schemata für DOAKs sind meist die erste Wahl.

Als weiterer Meilenstein wäre wohl die Therapie der pAVK zu nennen … 

Genau. Die pAVK, die früher oft in einer Amputation endete, kann heute ab dem Stadium IIb (lebensstillimitierende pAVK) mit komplexen endovaskulären Verfahren wie dem intravaskulären Ultraschall (IVUS), der Ballonangioplastie bzw. der Lithoplastie +/- Stenting behandelt werden. Entscheidend ist hierbei auch die Sekundärprophylaxe nach solchen Eingriffen im Sinne des optimalen Risikofaktorenmanagements, um die Offenheitsraten günstig und langfristig zu beeinflussen.

Die dauerhafte antithrombotische Therapie ist ein entscheidender Grundpfeiler, auf eine meist kurzzeitige duale Thrombozytenfunktionshemmung von max. ein bis drei Monaten folgt neuerdings oft eine dauerhafte duale antithrombotische Therapie aus einem niedrigdosierten DOAK (Rivaroxaban in der vaskulären Dosis) sowie ASS 100 mg, das sogenannte COMPASS-Schema. Dadurch lässt sich auch die kardiovaskuläre Mortalität langfristig signifikant senken, vorausgesetzt, das Blutungsrisiko per se ist nicht hoch.

Für die Optimierung des Cholesterinstoffwechsels zur Erreichung der strengen LDL-Zielwerte (< 55 mg/dl bzw. < 40 mg/dl bei Höchstrisikopatient:innen) stehen mit den PCSK9-Inhibitoren und Inclisiran potente Medikamente als Alternative bzw. Ergänzung zu einer Statintherapie zur Verfügung. Ganz neu und sinnvoll bei diesen Höchstrisikopatient:innen ist die Erweiterung der Lipidtherapie mit Eicosapentethylsäure wenn hohe Triglyceride >150mg/dl vorhanden sind. Für die optimale Einstellung des Blutzuckers bei diabetischer AVK kommen SGLT-2-Inhibitoren und GLP-1-Analoga zum Einsatz. 

Wie hat sich die Angiologie zu einem eigenen Fachgebiet entwickelt?
Entwicklungen und Fortschritte in der diagnostischen Bildgebung, bei interventionellen, endovaskulären Möglichkeiten bzw. Techniken und medikamentösen Maßnahmen zur Behandlung von Gefäßerkrankungen wie venösen Thrombosen und Embolien (VTE), peripheren arteriellen Verschlusskrankheiten (pAVK) sowie entzündlichen Erkrankungen (Großgefäßvaskulitiden) haben maßgeblich dazu beigetragen, dass sich die Angiologie zu einem eigenständigen Fachgebiet entwickelt und als Sonderfach der Inneren Medizin etabliert hat.

Diese Entwicklungen spiegeln auch den Wandel des Berufsbildes wider: von einer rein operativen Disziplin hin zu einer integrativen Angiologie, die diagnostische, therapeutische und präventive Ansätze kombiniert und so die Gefäßpatient:innen ganzheitlich behandelt.

Können Sie das konkretisieren? Welche Rolle spielen z. B. die Leitlinien in diesem Zusammenhang?

In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich die Wahrnehmung von Gefäßerkrankungen von einer engen Sichtweise, die sich auf altersbedingte Verschlechterungen konzentriert, zu einem breiteren, multidimensionalen Verständnis gewandelt, das in Genetik, kardiovaskulären Risikofaktoren, Lebensstil, sozialen Faktoren und systemischen Entzündungen wurzelt. Fortschritte in der Diagnostik und groß angelegte epidemiologische Studien haben vaskuläre Erkrankungen wie die periphere arterielle Verschlusskrankheit, den Herzinfarkt und den Schlaganfall neu definiert – nicht einfach als isolierte Ereignisse, sondern als Manifestationen komplexer systemischer Funktionsstörungen.

Diese sich entwickelnde Sichtweise wurde maßgeblich durch die Veröffentlichung klinischer Leitlinien geprägt, die als evidenzbasierte "Fahrpläne" für Diagnose, Behandlung und Prävention dienen. Die im September 2024 erschienenen pAVK-Leitlinien der ESC1 postulieren genau diesen holistischen Ansatz und sind wortwörtlich wegweisend für die Risikostratifizierung, Diagnostik, Therapie und Prävention von Gefäßerkrankungen. Sie sind aus dem klinischen Alltag nicht mehr wegzudenken. 

Auch momentan hört man regelmäßig von Innovationen in der Gefäßmedizin, Stichworte Diagnose, Therapie, KI. Was würden Sie diesbezüglich hervorheben?

KI-Technologien werden wahrscheinlich eine zentrale Rolle in der bildgebenden Diagnostik von Lungenembolien und anderen Gefäßveränderungen spielen. Auch im Langzeitmanagement, in der Rezidivprävention und bei Diseasemanagement-Programmen wird vermehrt KI zum Einsatz kommen, wobei sie komplexe Daten aus Bildgebung, elektronischen Gesundheitsakten und Biomarkern nützen und verknüpfen kann.

In weiterer Folge wird das Feld "digitale Zwillinge, tragbare Biosensoren und prädiktive Modellierung" womöglich eine wichtige Rolle dabei spielen, die Gefäßmedizin weiter zu individualisieren. Was erwarten bzw. erhoffen Sie sich noch von der Zukunft? Trotz der großen Fortschritte in der Gefäßmedizin bleibt die Weiterentwicklung der Angiologie eine kontinuierliche zentrale Aufgabe. Die Österreichische Gesellschaft für Internistische Angiologie (ÖGIA, siehe INFO) setzt sich dafür ein, die Früherkennung von Gefäßerkrankungen weiter zu verbessern und das Bewusstsein für vaskuläre Risiken frühzeitig zu schärfen.

Um die Bedeutung der Angiologie im Gesundheitssystem zu steigern, braucht es eine bessere Sichtbarkeit dieser Fachrichtung – sowohl in der Öffentlichkeit als auch innerhalb der Medizin. Dazu gehört ebenso eine engere Zusammenarbeit mit Hausärzt:innen und niedergelassenen Fachärzt:innen, um eine nahtlose Versorgung von der Prävention bis zur spezialisierten Therapie sicherzustellen. Die Vision ist klar: eine moderne, interdisziplinäre und patient:innenzentrierte Gefäßmedizin.