1. Was bedeutet "Deprescribing"?
Im Allgemeinen lässt sich "Deprescribing" als der von einer medizinischen Fachkraft überwachte Prozess, unangemessene Medikamente abzusetzen, beschreiben. Ziel ist es dabei, Polypharmazie zu reduzieren und Behandlungsergebnisse zu verbessern. Deprescribing wird oft synonym zu "rational use" verwendet und steht seit jeher eng mit Psychopharmaka wie Benzodiazepinen in Verbindung. Besonders bei älteren Menschen werden Benzodiazepine oft zu einem bestimmten Zeitpunkt und aus einem bestimmten Grund verschrieben, später aber nicht mehr auf ihre Effizienz und einen fortbestehenden Anlass hin überprüft. Sie werden so zu einer unhinterfragten Dauermedikation und können als solche die Sicherheit von Patient:innen gefährden.
2. Welche Ziele verfolgt das Forschungsprojekt "Less is More?"?
Wir wollen Verschreibungsroutinen besser verstehen und herausfinden, wie und warum Antibiotika und Benzodiazepine in Wien im niedergelassenen Bereich verordnet oder abgesetzt werden. Unser Projekt arbeitet daher mit einem bewusst weiter gesteckten Begriff von Deprescribing. Uns geht es auch um soziale und strukturelle Aspekte. Wir fragen also, in welcher Beziehung das Verschreiben und Weniger-Verschreiben mit allgemeinen Herausforderungen des Gesundheitssystems steht, z. B. mit Zeitressourcen, diagnostischer Kapazität oder dem Zugang zu ärztlicher Versorgung. Dafür ist auch die Sicht der Patient:innen, die so noch nie erhoben wurde, von zentraler Bedeutung. Unser Ziel ist es, auf der Basis neu generierter oder bisher unbeachtet gebliebener Daten ein Policy-Konzept zu erarbeiten, um bestehende Verschreibungsrichtlinien zu optimieren und die nachhaltige Verschreibung bzw. das Deprescribing beider Medikamentengruppen anzuregen.
3. Warum wurde der Fokus auf Antibiotika und Benzodiazepine gelegt?
Beide sind in Österreich weit verbreitete Substanzen. Allein in der Humanmedizin wurden hierzulande 2022 laut dem Resistenzbericht 54 Tonnen Antibiotika verbraucht, davon 64 % im niedergelassenen Bereich. Nach den letzten Schätzungen unseres Teams wurden in Wien rund 83.000 Benzodiazepine verschrieben, das sind im Jahr 2022 durchschnittlich 46 Verordnungen wegen Schlafstörungen oder Angstzuständen pro 1.000 Einwohner:innen. Antibiotika und Benzodiazepine stellen also eine zentrale Infrastruktur des Gesundheitswesens dar, die in der körperlichen und mentalen Gesundheitsversorgung omnipräsent ist. Im Unterschied zu anderen Substanzen bergen sie aber auch potenzielle Gefahren für Patient:innensicherheit und Public Health, etwa antimikrobielle Resistenzen und Abhängigkeiten.
4. Was hat es mit der "kulturellen Wirksamkeit" von Arzneimitteln auf sich?
Mit dem Begriff wollten Medizinanthropolog:innen in den späten 1990er Jahren darauf aufmerksam machen, dass es neben der medizinisch-biochemischen Zusammensetzung von Medikamenten kulturelle Aspekte im weitesten Sinne gibt, die die Wirksamkeit der Substanzen beeinflussen. Kulturelle Wirksamkeit heißt hier beispielsweise, dass Benzodiazepine nicht nur anxiolytisch wirken, sondern Individuen auch erlauben, trotz Schlafstörungen zur Arbeit zu gehen. Oder dass die Gabe von Antibiotika nicht nur auf Basis vorhandener bakterieller Infektionen erfolgt, sondern auch, um Patient:innen ein Gefühl der Fürsorge und Sicherheit zu geben. Medikamente werden also nicht immer und nicht nur nach ihren Wirkstoffen und evidenzbasierten Vorgaben verwendet. Sondern Medikamentengabe und -einnahme – und somit auch die Wirkung – werden von kulturellen, sozialen, ökonomischen und gesundheitssystemischen Aspekten beeinflusst.
5. Welche Hürden hat man beim Deprescribing identifiziert?
Oft genannt werden mangelnde Aufklärung, Information und "Awareness" – in Bezug auf Patient:innen wie auch Ärzt:innen. Doch wir müssen weitaus tiefer gehen. Es gibt allgemeine Faktoren, die das Weniger-Verschreiben von Benzodiazepinen und Antibiotika erschweren: Der Leidensdruck von Patient:innen einerseits, der Druck unserer Leistungsgesellschaft andererseits. Man muss funktionieren und arbeiten bzw. darf man nicht krank sein. Ein weiterer Faktor liegt im Gefüge des gesamten Gesundheitssystems: Wenn ein Medikament aus unterschiedlichen Gründen sparsamer verschrieben werden soll, dann müssen Ressourcen anderweitig eingesetzt werden, um das zu ermöglichen. Beispielsweise bräuchte es mehr Psychotherapieplätze oder eine stärker holistische und somit eine zeitintensivere Betreuung von Patient:innen, die wiederum mehr refundierbare Zeitressourcen und Kassenplätze im Gesundheitssystem erfordern würde.
6. Welche Rolle spielen Hausärzt:innen?
Wir haben bewusst nach einer ersten Phase der Forschung den niedergelassenen Bereich fokussiert. Als oftmals erste und langjährige Anlaufstelle tragen Hausärzt:innen eine große Verantwortung im System. Sie sind auch diejenigen, die ihre Patient:innen und deren Lebensumfeld am besten kennen. Somit können sie am ehesten einschätzen, wie, wann und für wen Deprescribing einen Sinn ergibt. Hausärzt:innen in ihrem Engagement für Patient:innensicherheit und -wohlbefinden zu verstehen und sie zu unterstützen, ist ein zentrales Anliegen unseres Projekts.
7. Wie ließen sich wirtschaftliche, gesundheitspolitische und umweltmedizinische Interessen miteinander vereinbaren?
Einfache Lösungen sind bei systemischen Herausforderungen unangebracht. Allerdings sehen wir, dass es auf allen drei Ebenen Verhandlungsprozesse in Politik und Gesellschaft braucht, die wir mit anstoßen wollen. Hinsichtlich der Kostenreduktion sollten wir diskutieren, ob Deprescribing Gesundheitskosten senken, die Gefahren von Polypharmazie verringern und eine bessere Verteilung der nötigen Mittel auf präventive und patient:innenzentrierte Maßnahmen ermöglichen kann. Im Idealfall könnte Deprescribing somit zu mehr Patient:innensicherheit beitragen, allerdings im Rahmen einer Abwägung von individueller und kollektiver Gesundheit. Zunehmend werden auch die Umweltauswirkungen von übermäßigem Medikamentenkonsum bekannt, z. B. resistente Keime oder Hormone in Wasser und Boden. Deprescribing könnte hier weniger Umweltbelastung und mehr ökologische Nachhaltigkeit erzielen.
8. Liegen erste Projektergebnisse vor?
Derzeit nähern wir uns dem Ende der qualitativen Datenerhebung, die statistische Datenauswertung beginnt gerade. Während der ersten Monate unserer qualitativen Forschung hat sich herausgestellt, dass es nie nur um ein "Weniger" gehen kann. Daher haben wir im Laufe des ersten Projektjahres unserem Projektnamen bewusst ein Fragezeichen hinzugefügt: "Less is More?" Also ist weniger wirklich mehr? Gespräche mit Mediziner:innen, Sozialorganisationen, Pharmazeut:innen und Patient:innen haben gezeigt, dass es um einen qualitätsvolleren, gezielteren und nachhaltigen Einsatz von Medikamenten gehen sollte. Was richtig und wichtig ist, hängt vom medizinischen, sozialen und individuellen Kontext ab. Hierzu wird unsere Forschung im Verlauf der weiteren Datenanalyse neue Erkenntnisse hervorbringen und sie wird, so hoffen wir, eine umfassende und systemische Sicht ermöglichen.